Die fünf Irrtümer bei der Ausrichtung der Zentralen Notfallambulanz

Und warum eine funktionierende Triage zu unzufriedenen Patienten und Mitarbeitern führen kann

 

Zentrale Notfallambulanzen (ZNA) in deutschen Krankenhäusern haben derzeit eine eher schlechte Presse: Der Betrieb ist chronisch unterfinanziert, die Patienten überfluten die Notfallambulanzen mit immer mehr „Bagatell-Leiden“, Fehldiagnosen und -behandlungen machen spektakuläre Schlagzeilen und füllen die Meinungsforen für Patienten und Angehörige im Internet. Die Mitarbeitenden in den Notfallambulanzen geben jeden Tag ihr Bestes, um der Lage Herr zu werden, doch die durchschnittlichen Wartezeiten steigen für den Großteil der Patienten stetig an und als Folge davon gibt es immer mehr Patienten und Angehörige, die zunächst sehr schnell unzufrieden sind, dann oft wütend und manchmal sogar auch noch aggressiv werden.

Nicht zuletzt steigt in einem derartigen Setting das Risiko, dass wirklich gefährdete Patienten zu spät erkannt werden.

Auf der anderen Seite wird immer wieder betont, dass die Zentrale Notfallambulanz die „Visitenkarte“ des Krankenhauses ist – Wunsch und Wirklichkeit passen hier jedoch im Alltag aus Sicht aller Beteiligten immer weniger zusammen.

Ein Ansatz, der heute aus organisatorischen und forensischen Gründen fast schon zum Standard in Zentralen Notfallambulanzen gehört, ist das Vorgehen der Triagierung. Vom Grundsatz her haben alle Varianten einer Triage (drei- oder fünfstufig) vornehmlich zum Ziel, im Rahmen einer strukturierten, fachlichen Ersteinschätzung Patientengruppen mit unterschiedlicher Dringlichkeit für eine medizinische Abklärung und Versorgung zu bilden. Teilweise wird auch der Aufwand, den ein Patient erzeugt, mit berücksichtigt. Die Einführung einer Triage reicht jedoch keineswegs aus, um das bestehende Dilemma der Notfallambulanzen zu beseitigen.

Ich plädiere wie meine Beraterkollegen bei ZEQ nicht nur aus fachlichen Gründen, sondern auch im Sinne einer bestmöglichen Prozessführung sehr wohl für die Etablierung einer Triage, bin jedoch überzeugt, dass die Überlastung der meisten Notfallambulanzen eher die Folge einer unklaren Auftragsstruktur einerseits sowie einer insuffizienten Prozessführung andererseits ist. Ferner beobachte ich immer wieder, dass die Triagierung – obwohl „technisch“ gut umgesetzt – grundlegend falsch verstanden wird.

Aus meiner Sicht halten sich immer noch hartnäckig fünf große Irrtümer bei der Ausrichtung einer Notfallambulanz:

  1. Die Notfallambulanz kostet nur Geld – deshalb muss dort intensiv gespart werden. Ferner kann dort noch alles „mit erledigt“ werden, was andernorts so anfällt (Elektiv-Sprechstunden, Konsile, Untersuchungen stationärer Patienten etc.).
  2. Die Notfallambulanz dient der Administration – der erste Ansprechpartner, auf den der Patient trifft, ist die administrative Aufnahmekraft.
  3. Die Notfallambulanz ist nur für „richtige“ Notfälle gedacht – die Triagierung nach Dringlichkeit verwechselt dabei aber oft die Notwendigkeit der Behandlung mit der einer Triagestufe hinterlegten Wartezeit.
  4. Die Notfallambulanz dient der ärztlichen Weiterbildung – unerfahrene Assistenzärzte haben den ersten Patientenkontakt, der erfahrene Facharzt greift erst später in den (Entscheidungs-)Prozess ein.
  5. Die Notfallambulanz gehört teilweise der Chirurgie und teilweise der Inneren Medizin – obwohl „interdisziplinär“, behalten sich die Fachabteilungen einzelne Behandlungsräume exklusiv vor.

Lassen Sie sich mit mir doch einmal als Denkanstoß auf das folgende Szenario ein:

„Sie gehen in ein Lokal, haben nur wenig Hunger und bestellen einen kleinen Salat. Der Ober sagt, Sie müssten Ihren Tisch bitte freigeben und auf unbestimmte Zeit warten, da die Gäste mit großem Hunger und großen Portionen immer bevorzugt bedient werden. Wie würden Sie reagieren?“

Natürlich ist die Situation eines Notfallpatienten nicht direkt mit der unseres Restaurantgastes vergleichbar – darauf werde ich in diesem Block später noch eingehen. Aber Sie werden mir vielleicht zustimmen, dass eine dem obigen Gedankenexperiment vergleichbare Wirkung auf diejenigen Patientengruppen erzielt wird, die sich durch die Triage zeitlich „aussortiert“ fühlen und eine fortwährende „Bevorzugung“ anderer Patienten erleben.

Ich behaupte, es gibt keinen Patienten in der Notfallambulanz, der die „Lizenz zum Warten“ hat!

Ganz im Gegenteil: Gerade die Patienten, deren Beschwerden aus Sicht der Behandler wenig dringlich sind und die nur wenig diagnostischen Aufwand zur Abklärung benötigen, sollten so schnell wie möglich die Notfallambulanz wieder verlassen (und im besten Falle überhaupt keinen Untersuchungs- bzw. Behandlungsraum belegen). Triagierung bedeutet, dass jeder initial eingeschätzte Patient so schnell wie möglich die für ihn nötige Versorgung erhält!

Hier lohnt sich ein kleiner Ausflug in die Psychodynamik des Wartens [1]: Studien belegen, dass Patienten mit niedriger Dringlichkeit mit zunehmender (und gefühlter!) Wartezeit schnell ungeduldiger, unzufriedener und v.a. aufwändiger in der Versorgung werden (z.B. Hunger / Durst etc.) – und als Folge davon auch unzufriedene Mitarbeiter produzieren. 70% auch der Patienten mit niedriger Dringlichkeit haben Schmerzen – ein noch wesentlich höherer Prozentsatz Angst! Die Angst der Notfallpatienten korreliert dabei nicht mit der „wahren“, sondern eher mit der angenommenen Gefahr.

Da verwundert es wenig, dass der Zustand mit Schmerzen und Angst im Zusammenwirken mit dem Gefühl fehlender Wahrnehmung rasch in Wut und Aggressivität umschlagen kann. Fakt ist auch, dass das Gefühl der Ohnmacht bei den begleitenden Angehörigen meist noch ausgeprägter ist, als bei den Patienten selbst. Und anstatt die Ursache für den Unmut der Patienten durch eine andere Organisation zu beseitigen, schotten sich die Mitarbeitenden in der Notfallambulanz immer öfter ab, indem sie sich hinter transparenten Glasscheiben verstecken und kollektiv die „schwierigen Patienten“ beklagen, die in großer Zahl aber „hausgemacht“ sind – was in einer Negativschleife die Situation eher weiter eskalieren lässt. Ich überzeichne das Bild ganz bewusst, weil ich mit großem Nachdruck dafür plädiere, dass Patienten mit niedriger Dringlichkeit ein eigenes Konzept für eine besonders schnelle Sichtung und Behandlung brauchen!

Derartige Konzepte existieren bereits und werden beispielweise mit dem Begriff „First View“ belegt [2]: Das Grundprinzip hierbei ist, dass ein erfahrener „Notfallmediziner“ (den es mit dieser Bezeichnung so in Deutschland noch nicht gibt) schon im Bereich der Triage genau die medizinischen Prozesse anstößt, die die Situation des Patienten erfordert. Patienten mit niedriger medizinischer Dringlichkeit werden im Sinne eines „Fast-Track-Prozesses“ teilweise schon im Triageraum oder in eigenen Fast-Track-Kabinen erstversorgt und danach wieder direkt aus der ZNA entlassen. In einer Variante des First-View-Konzepts führen Triagekraft und Arzt zusammen die sog. „Medizinische Team Evaluation (MTE)“ durch.

Für die Prozessbetrachtung der ZNA bedeutet dies, dass schon ganz zu Beginn der Prozesskette ein ärztlicher Profi mit Entscheidungskompetenz im Sinne eines „Gatekeepers“ die richtigen Weichen stellt. Die Funktion des Gatekeepers halte ich für unverzichtbar – gleichzeitig ist das sicherlich ein Knackpunkt bei der Einführung des First-View-Konzepts, weil viele Krankenhäuser die Personalinvestition an dieser Stelle nicht vornehmen wollen (siehe Irrtum Nr. 1) oder ein solcher Arzt schlicht nicht zur Verfügung steht.

Wenn man sich die Verteilung der ambulanten Patienten in Bezug auf die Notwendigkeit einer Versorgung durch das Krankenhaus im Überblick anschaut, lassen sich drei Kategorien bilden [3]:

  1. allgemeine Notfallbehandlung (33% der ambulanten Fälle) – das ist das Potenzial an Patienten, das über eine KV-Ambulanz versorgt werden kann und nach kurzer Erstversorgung gar nicht die ZNA betreten müsste (Fast-Track-Patienten)!
  2. spezielle Notfallbehandlung (20% der ambulanten Fälle) sowie
  3. krankenhaus-spezifische Notfallbehandlung (47% der ambulanten Fälle)

Patienten der Kategorien 2 und 3 (67% aller Fälle) benötigen mindestens eine bzw. häufig sogar ein Bündel an spezieller Diagnostik, die streng genommen nur ein Krankenhaus bieten kann. Es muss aber erklärtes Ziel der ZNA sein, die Patienten der ersten Kategorie anders zu steuern!

Viele Krankenhäuser setzen auf die Ansiedlung einer KV-Ambulanz in der Nähe der oder gar in den Strukturen der ZNA. Auch aus meiner Sicht ist die Anbindung einer KV-Ambulanz an das Krankenhaus ein Gewinn für die Steuerung der Patienten der Kategorie 1 und teilweise auch der anderen Kategorien – z.B. durch die Integration der KV-Ambulanz in das Fast-Track-Konzept. Skeptisch bin ich allerdings in Bezug auf die oft unzureichenden Servicezeiten der KV-Ambulanz und deren unmittelbare Nähe zur ZNA: Der Patient kann die beiden Strukturen nicht differenzieren und lastet alle negativen Erfahrungen mit den „KV-Ärzten“ unmittelbar dem Krankenhaus und nicht der KV-Ambulanz an.

Was wären nun die „richtigen“ Eckpunkte, an denen eine ZNA ausgerichtet werden sollte? Mir fallen da zusammengefasst im Wesentlichen vier Festlegungen / Aufgabenfelder ein:

  1. Die ZNA fokussiert strikt darauf, dass jeder Patient so rasch wie möglich die für ihn nötige Versorgung erhält!
  2. Die Aufgaben der ZNA sind die Evaluierung, Stabilisierung, Diagnostik, (Initial-)Therapie und Disposition der Patienten! Alle sonstigen, oft tradierten Aufgaben (Elektiv-Sprechstunden, Konsile etc.) werden eliminiert! Der Elektivpatient durchläuft räumlich und organisatorisch von ambulanten Patienten getrennte Prozesse! Eine Steuerstelle in der ZNA mit einer Übersicht „wo in welchem Status sich welcher Patient befindet“ ist die Voraussetzung für eine effiziente Disposition!
  3. Die ZNA ist von zentraler Bedeutung für die Patientensteuerung innerhalb des Krankenhauses („Gatekeeper-Instanz“ und „Drehscheibe“) – die ZNA macht aus einem unklaren Patienten in kurzer Zeit und mit dem nötigen Aufwand einen klaren Patienten!
  4. Die ZNA dient der Gewinnung von stationärem Potenzial und wird als größter Zuweiser des Krankenhauses wertgeschätzt: Die durchschnittliche Notfallquote [3] in deutschen Krankenhäusern ist > 50% - in der Inneren Medizin sogar noch weit höher! Ferner ist der Zuwachs an Fallzahlen in den letzten Jahren ganz wesentlich auf den Anstieg an Notfallpatienten zurück zu führen!

Zum Abschluss noch zwei weitere Anmerkungen: Die unter Aufzählungspunkt 3 beschriebene Kernaufgabe der ZNA, „aus unklaren Patienten klare Patienten zu machen“, kann durch die Etablierung von „Abklärungsbetten“ in der ZNA unterstützt werden (sog. „Decision Unit“). Diese ermöglichen der ZNA, Patienten ohne dauerhafte Belegung eines der ambulanten Untersuchungs- bzw. Behandlungszimmer über Nacht dazubehalten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit stationär aufgenommen werden müssen, deren Status aber am Abend noch nicht einwandfrei geklärt ist. Wichtig ist hierbei die Abgrenzung zu Begrifflichkeiten wie „Kurzliegerstation“ oder „Aufnahmestation“. Die Abklärungsbetten haben die Funktion, die nächtliche Aufnahme von unklaren Patienten auf Station zu vermeiden (die für das Stationspersonal einen nicht gerechtfertigten Aufwand und für Mitpatienten im Stationszimmer eine nicht hinzunehmende Störung darstellt), identifizierte stationäre Fälle für die stationäre Aufnahme weitgehend vorzubereiten und nicht zuletzt auch die Gefahr von Fehlbelegungen zu vermindern. Dies ist auch im Sinne des Patienten: Denn nach wie vor möchte die große Mehrzahl der Menschen einen stationären Aufenthalt vermeiden!

Darüber hinaus möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass die Verweildauer der Patienten in der ZNA und damit deren Gesamtwartezeit ganz wesentlich auch durch einen unzureichenden Abfluss der Patienten auf die Normal- oder Intensivstation bestimmt wird. Im Sinne der Pull-Ausrichtung als einem der zentralen Prinzipien für die Prozessführung im Lean Management sind die Prozesse der ZNA eng verwoben mit dem Entlass- und Belegungsmanagement des Krankenhauses. Das Phänomen des „Over-Crowdings“, also der Überfüllung der ZNA mit Patienten, ist multifaktoriell verbunden mit insuffizienten Prozessleistungen angrenzender Bereiche: ein hoher Anteil zu spät entlassener Patienten auf der peripheren Station (oft nach der Mittagszeit!), zu später Abfluss von Patienten von ICU-/ IMC-Bereichen. Es finden sich aber auch Unzulänglichkeiten der ZNA selbst, wie beispielweise das viel zu späte Anmelden eines Bettes – dieses sollte schon direkt nach der Triage erfolgen!

Die ZNA muss sich letztlich an festgelegten Kennzahlen messen und steuern lassen, bewährt haben sich:

  • time to provider (Zeit bis Arztkontakt)
  • left-without-treatment rates (Rate der Patienten, die die Ambulanz ohne Behandlung vorzeitig verlassen)
  • average length of stay (durchschnittliche Zeit für den Aufenthalt)
  • Zeit bis Abfluss in freies stationäres Bett (Normal / Intensiv)
  • Aufnahmequote

Übrigens: Gute Restaurants begrüßen ihre Gäste mit einem „Amuse Gueule“ (einem leckeren Gruß der Küche), um ihnen zu zeigen, dass sie wahrgenommen werden und nehmen bei allen schon früh den Getränkewunsch auf… und die Gäste mit kleinem Hunger werden möglichst schnell bedient, damit sie die Tische für Gäste mit großem Hunger frei machen!

[1] Fleischmann, Thomas; Amler, Nadja; Schöffski, Oliver, Dtsch Arztebl 2014; 111(39): A-1642 / B-1420 / C-1352

[2] Quelle: Deutsche Gesellschaft interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin e.V. (DGINA)

[3] Quelle: DGINA-Gutachten zur ambulanten Notfallversorgung

phonemail

Für das beste Krankenhaus, das man sein kann.

Sie wollen Ihre Einrichtung oder das Gesundheitswesen weiterentwickeln? Dann freuen wir uns auf Ihre Kontaktaufnahme.

Kontakt

+49 (0)621 3008400